Cover
Titel
Cassiodorus, The Variae. The Complete Translation


Autor(en)
Bjornlie, Michael Shane
Erschienen
Anzahl Seiten
519 S.
Preis
£ 103.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabina Walter, Department Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Mit dem zu besprechenden Buch legt M. Shane Bjornlie die erste vollständige Übersetzung von Cassiodors Varien ins Englische vor, einer der wichtigsten Quellen für die Verwaltung und das Rechtswesen im Ostgotenreich im frühen 6. Jahrhundert. Damit schließt das Buch in gewissem Grade eine Lücke, denn die einzige andere vollständige Übersetzung der Varien ist die italienische Version von Andrea Giardina.1 Dass die ausführlich kommentierte und mit einer lateinischen Textfassung zusammen edierte Übersetzung von Giardina inhaltlich mehr bietet – jedenfalls Kennern des Italienischen –, ist dabei im Sinne des Autors. Bjornlies erklärtes Ziel ist es, Cassiodor und seine Varien als Zeugnis für einen Wendepunkt der römischen Geschichte zugänglicher zu machen. Die Übersetzung und alle gebotenen Zusatzinformationen sollen in einen einzigen Band passen und ohne größere Unterbrechungen lesbar und verständlich sein. Wahrscheinlich studieren nur wenige Leser/innen hunderte von Briefen im spätantiken Kanzleistil am Stück, Bjornlies Buch ermöglicht es nun aber immerhin, auf alle Texte aus den Variae in englischer Sprache zugreifen zu können, macht also diese vielseitige und sprachlich komplexe Quelle einem breiten Leserkreis zugänglich.

Der Übersetzung vorangestellt sind einige knappe Einleitungskapitel zum historischen Kontext, zu Cassiodor, zu den Varien als Briefsammlung und zu ihrem Nachleben. Diese Einleitung muss man als das lesen, als was sie deklariert ist: eine erste Einführung. Jemandem, der bisher keinen Kontakt zu den Ostgoten, Italien im 6. Jahrhundert und dem Autor Cassiodor hatte, verschafft sie einen groben Überblick – ohne Fußnoten und mit höchstens kurzen Ausblicken auf Forschungsdiskussionen. Wer mehr und Genaueres wissen will, muss zusätzlich zu anderen Arbeiten greifen. Als Hilfestellung dafür bietet Bjornlie am Ende des Buches eine zweieinhalb Seiten kurze Bibliographie mit Empfehlungen zur weiteren Lektüre. Diese sind, vermutlich auch im Interesse der Nutzbarkeit für den anvisierten Leserkreis, größtenteils aus dem anglophonen Raum und wohl eher ein Ausgangspunkt für eigene Recherche, denn eine umfassende Bibliographie zur Thematik.

Am Ende der einleitenden Kapitel steht eine chronologische Übersicht relevanter Ereignisse in Italien von 425 bis zum Jahr 580. Die entsprechende Tabelle ist hilfreich und an sich nach vernünftigen Kriterien ausgewählt; sie zeigt das Wichtigste, ohne an Übersichtlichkeit zu verlieren. Allerdings ist es ein wenig störend, dass sie auf Ereignisse Bezug nimmt, die in der sehr kompakten historischen Einleitung nicht erwähnt werden. Der Übersicht folgen drei Karten: Gezeigt werden der Mittelmeerraum, Norditalien und Italien als Ganzes. Eine vierte Karte, auf der das Herrschaftsgebiet des Ostgotenreiches auch jenseits von Italien gezeigt wird, wäre eine gute Ergänzung gewesen. Damit schließen die vorausgeschalteten Abschnitte des Buches und die eigentliche Übersetzung der Varien beginnt. An sie angefügt sind die erwähnte Bibliographie und Indizes für Personen, Völker, Konzepte und Begriffe und schließlich für Orte.

Die einzelnen Übersetzungen der Briefe folgen der Ordnung des lateinischen Originals. Jedem Brief ist eine Einordnung von wenigen Zeilen vorangestellt, in der das Nötigste zum Inhalt oder Verhältnis zu anderen Briefen steht. Es handelt sich dabei nicht um ausführliche Kommentare, weder philologischer noch historischer Natur, sondern um simple Hilfestellungen zum Verständnis der Texte. Ausführliche Kommentierung oder textliche Varianten hätten zu viel Platz eingenommen und die kompakte Form der Übersetzung aufgebrochen.

Stilistisch orientiert sich Bjornlies Englisch an Cassiodors Latein, soweit das möglich ist. Dadurch wird der Text ein wenig blumig und manieristisch, ohne aber ins völlig Unverständliche abzugleiten. Das erlaubt auch Leserinnen und Lesern, die nicht den lateinischen Text kennen, die Wirkung von Cassiodors Stil halbwegs nachzuvollziehen. Das, was man in der Didaktik als fremdkulturelle Konzepte bezeichnen würde – also beispielsweise Ämterbezeichnungen, für deren Bedeutung im 6. Jahrhundert es keine exakte Entsprechung im Englischen gibt –, lässt Bjornlie auf Latein stehen. So lassen sich einerseits von Forscher/innen die Kontexte nachvollziehen, in denen ein bestimmter Begriff tatsächlich von Cassiodor verwendet wird, andererseits kommen Studierende oder Fachfremde, die die Übersetzung nutzen wollen, nicht in Versuchung, anachronistische Gleichungen aufzustellen, etwa zwischen einem comes largitionum und einem Finanzminister. Über die eine oder andere Wortwahl und Einzelentscheidungen bei der Übertragung vom Lateinischen ins Englische ließe sich sicher streiten, denn wer auf philologische Anmerkungen verzichtet, kann sich nur auf eine einzige Form des Textes festlegen und hat keinen Raum, sich für seine Entscheidung zu rechtfertigen. In der Regel trifft Bjornlie aber eine gute Wahl.

Setzt man Zugänglichkeit zum Text und Benutzbarkeit der Übersetzung als Maßstab an, dann wird Bjornlie seinen eigenen Forderungen völlig gerecht. Seine Varienübersetzung verhält sich zu der von Giardina wie die Kamera auf einem Smartphone zu einer Spiegelreflexkamera mit mehreren Objektiven und Aufsätzen. Ein Profi kann mit letzterer sicherlich mehr interessante Dinge tun, als mit dem ersteren, aber nur eine der beiden Optionen ist leicht, kompakt und einfach zu bedienen. Schon allein der Bequemlichkeit halber sollte sich jeder, der mit den Varien arbeitet, auch diese Übersetzung zulegen.

Anmerkung:
1 Andrea Giardina u.a. (Hrsg.), Cassiodoro, Varie, 6 Bde., Rom 2014–2020. In Deutsch und Englisch liegen sonst nur Auswahlübersetzungen vor: Sam J. B. Barnish (Übers.), The Variae of Magnus Aurelius Cassiodorus senator, Liverpool 1992; Peter Dinzelbacher (Übers.), Briefe des Ostgotenkönigs Theoderich der Große und seiner Nachfolger. Aus den „Variae“ des Cassiodor, Heidelberg 2010. Vgl. auch Friederike Gatzka, Cassiodor, Variae 6. Einführung, Übersetzung und Kommentar, Berlin 2019.

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